Ärztin aus Leidenschaft oder: vom Traumberuf zum Albtraum?
Eine neue Studie unter Fach- und Oberärztinnen, Chefärztinnen, leitenden Chefärztinnen und Ärztinnen sowie Assistenzärztinnen offenbart alarmierende Arbeitsbedingungen von Ärztinnen im Krankenhausbetrieb. In diesem Deep Dive stelle ich die Ergebnisse meiner Untersuchung vor.
Die Lage ist angespannt
Schlafstörungen und körperliche Erschöpfung, Dünnhäutigkeit, nach Feierabend nicht abschalten können sowie Symptome wie Nackenverspannungen, Rückenschmerzen und Herz-Kreislauf-Probleme: Ärztinnen im Krankenhausbetrieb erleben tagtäglich die Folgen ihrer hohen psychischen und physischen Arbeitsbelastung. Auch Zeitdruck, Personalengpässe, hoher administrativer Aufwand und strukturelle Hürden auf dem Karriereweg hinterlassen ihre Spuren.
Obwohl viele Krankenhausbetreibende vielerorts bemüht sind, die Situation ihrer Ärztinnen zu verbessern, ist eine grundlegende Veränderung offenkundig nicht in Sicht. Dabei liegt auf der Hand, dass das Bestreben nach einer optimalen Patient:innenversorgung und Ressourcenausstattung nicht von verbesserten Arbeitsbedingungen und dem Wohlbefinden der Ärztinnen getrennt werden kann.
Meine Studie „Ärztinnen im Krankenhaus - Arbeiten am Limit 2023“ beleuchtet die tiefgreifenden persönlichen und strukturellen Herausforderungen, die Ärztinnen in ihrem Alltag bewältigen müssen. Die Daten liefern Einblick in die angespannte psychische und physische Verfassung der Klinikärztinnen.
„Gefragt ist eine ganzheitliche Herangehensweise, die (...) auch die Förderung der mentalen und physischen Gesundheit der Ärztinnen beinhaltet.“
Zwei Drittel betrachten Arbeitsumfeld als belastend
Obwohl 80 Prozent der befragten Ärztinnen betonen, dass ihnen ihre mentale und körperliche Gesundheit „sehr wichtig“ sei, bewerten etwa 50 Prozent ihre mentale Verfassung nur als „mittel“. Rund jede fünfte Befragte bezeichnet ihre Verfassung als „nicht so gut“ oder „eher schlecht“.
66 Prozent der Studienteilnehmerinnen kennen Situationen aus ihrem Arbeitsumfeld, die sie als körperlich und mental belastend empfinden. 54 Prozent klagen über eine schlechte Schlafqualität sowie körperliche Erschöpfung. Auf Platz zwei folgen Herz-Kreislauf-Probleme, Nackenverspannung und Rückenschmerzen.
Auf mentaler Ebene sagen 70 Prozent der Ärztinnen, dass sie unter Vergesslichkeit, Dünnhäutigkeit und Gereiztheit leiden. 40 Prozent geben an, nach Feierabend nicht abschalten zu können. 20 Prozent fühlen sich energielos.
Hierarchische Dynamiken als erschwerender Faktor
Wenn es um Hürden und Herausforderungen im Arbeitsumfeld geht, nennen etwa 58 Prozent Arbeitsüberlastung, hierarchische Strukturen und ein männlich dominiertes Umfeld als Hauptprobleme. Der fest verankerte, stark männlich geprägte Stereotyp des Arztberufs und veraltete Dynamiken haben nach wie vor Auswirkungen auf die Karriereentwicklung der Ärztinnen. Dies trägt dazu bei, dass in den Chefetagen von Kliniken nach wie vor kaum Ärztinnen zu finden sind, obwohl sie dort eigentlich zahlreich vertreten sein sollten.
Auf Platz zwei stehen die hohe Verantwortung, administrative Aufgaben sowie geringe persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber hinaus ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus Sicht der Studienteilnehmerinnen besonders schwierig.
Kaum Zeit für Erholung und Pausen
Die Frage „Tun Sie grundsätzlich etwas für den Ausgleich?“ bejahen 68 Prozent der befragten Ärztinnen. Die beliebtesten Aktivitäten sind Yoga und Sport mit 62 Prozent. 42 Prozent finden ihren Ausgleich in der Familie und im sozialen Umfeld. Achtsamkeit und Entspannung stehen an dritter Stelle.
Zu der Frage, welche Gründe sie vom Ausgleich abhalten, sagen rund 70 Prozent der Ärztinnen, die die Antwort auf jene Frage verneinten, dass sie keine Zeit hätten, sich um ihren Ausgleich zu kümmern. Erschöpfung und Regelmäßigkeit werden von jeder Sechsten als Gründe für ausbleibende ausgleichende Aktivitäten genannt.
Claudia Nacci | CEO Claudia Nacci Coaching | LinkedIn | Copyright: Birgit Klemt
Die Dringlichkeit von Veränderungen
Die Tatsache, dass sich 60 Prozent der Ärztinnen in den letzten 12 Monaten mit dem Wunsch nach beruflicher oder persönlicher Veränderung getragen haben und fast 30 Prozent mit dem Gedanken befasst sind, den Job zu wechseln, unterstreicht die Dringlichkeit von Maßnahmen.
Die gewonnenen Erkenntnisse bieten nicht nur eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Situation, sondern liefern auch wertvolle Einblicke in mögliche zukünftige Entwicklungen im Gesundheitswesen.
Die größten Herausforderungen – hierarchische Strukturen, die männliche Prägung des Umfeldes und Arbeitsüberlastungen – erfordern eine gezielte Auseinandersetzung. Hierbei liegt nicht nur eine individuelle Verantwortung bei den Ärztinnen selbst, sondern auch bei den Verantwortlichen auf Betreibendenseite sowie im Gesundheitswesen insgesamt. Ein Wandel in der Unternehmenskultur und eine stärkere Fokussierung auf eine kooperative, auf Diversität ausgerichtete Arbeitsatmosphäre sind notwendig, auch im Hinblick auf die Geschlechtergleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten.
Langfristige Veränderungen erforderlich
Um die persönliche Entwicklung von Ärztinnen nachhaltig zu fördern, ist es entscheidend, auch auf struktureller und gesellschaftlicher Ebene anzusetzen. Dies erfordert einen offenen Dialog über bestehende Probleme und die Schaffung eines unterstützenden Umfelds. Die medizinische Ausbildung sollte nicht nur fachliche, sondern auch soziale Kompetenzen stärken, um zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.
Insgesamt verdeutlicht die Studie, dass die Herausforderungen im Gesundheitswesen nicht nur kurzfristiger Natur sind, sondern auch langfristige Veränderungen erfordern. Gefragt ist eine ganzheitliche Herangehensweise, die neben Verbesserungen der Arbeitsbedingungen auch die Förderung der mentalen und physischen Gesundheit der Ärztinnen beinhaltet. Ein verstärkter Austausch zwischen den Akteur:innen im Gesundheitswesen ist unerlässlich, um gemeinsam eine positive und unterstützende Arbeitsumgebung zu schaffen und eine nachhaltige Verbesserung im Gesundheitswesen zu erzielen.
Management Summary
Die Resultate der Studie „Ärztinnen im Krankenhaus - Arbeiten am Limit 2023“ verdeutlichen, dass Ärztinnen einer herausfordernden Arbeitsumgebung ausgesetzt sind, die zu körperlichem und mentalem Verschleiß führt. Dies erfordert nicht nur eine sofortige Optimierung der Arbeitsbedingungen auf individueller und struktureller Ebene, sondern wirft auch die Frage nach langfristigen Lösungen auf. Diese erfordern verstärkte Anstrengungen auf Ebene der Krankenhausbetreibenden und weiterer Akteure des Gesundheitswesens. Andernfalls ist mit einem Abwandern von Ärztinnen aus dem Krankenhausbetrieb in andere Bereiche und Länder wie beispielsweise die Schweiz auf breiter Front zu rechnen.
Studiendesign
Studienteilnehmende: Fach- und Oberärztinnen, Chefärztinnen, leitende Chefärztinnen und leitende Ärztinnen und Assistenzärztinnen, in Krankenhäusern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Fallzahl: N = ~ 50
Methode: Persönlich geführte, fragebogengestützte Tiefeninterviews mit, Dauern zwischen 30 und -70 Minuten., durchgeführt über Zoom
Umfragezeitraum: Januar 2023 - Oktober 2023
Weiterführende Literatur:
Nacci, C. (2023) Ärztinnen im Krankenhaus – Arbeiten am Limit 2023. Abgerufen von: LINK