Beyond Borders

Nachzügler: Warum Deutschland bei digitaler Medizin noch aufholen kann – wenn es von den Nachbarn lernt 

Die Transformation des Gesundheitswesens von analog zu digital hat in Europa längst begonnen. In manchen Staaten schon vor zwei oder gar drei Dekaden. So gibt es das E-Rezept in Dänemark seit 1994 und die ePA (elektronische Patientenakte) seit 11 Jahren. Die estnische ePA ist schon seit 2001 verfügbar. Nun ist es für viele vielleicht keine Überraschung, dass das moderne Skandinavien und der viel zitierte „Digitalisierungsleuchtturm Estland das Ranking anführen. Doch auch die südlicheren EU-Ländern managen Gesundheit digital: Das E-Rezept gibt es in Spanien seit 2005, in Italien wurde es 2008 bis 2012 eingeführt. Portugal hat seine ePA seit 2013, Kroatien seit 2008.

Im übrigen Europa wird der Datenschutz zugunsten der Nutzbarkeit der Anwendung nicht lax gehandhabt.

Interaktive Karte zeigt Vergleich mit Nachbarländern 

Die interaktive Karte, die die gematik zu „Digitaler Gesundheit in Europa“ herausgebracht hat, zeigt diese und andere Beispiele eindrücklich. Deutlich wird auf einen Blick: Deutschland hinkt gewaltig hinterher. Denn hier greift das E-Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente erst ab 2024 bundesweit in der Versorgung, die „ePA für alle“ soll nach dem Willen der amtierenden Bundesregierung bis zum Ende der laufenden Legislatur eingeführt werden.  

 

Elektronische grenzüberschreitende Gesundheitsdienste – derzeit ohne Deutschland 

Bei so viel Verzug wundert es fast nicht mehr, dass Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern noch keine elektronischen grenzüberschreitenden Gesundheitsdienste anbietet. Sie funktionieren über die eHealth-Dateninfrastuktur (eHDSI) sicher, effizient und interoperabel unter der Kennzeichnung MyHealth@EU. Das Ziel: Bürger:innen sollen ihre Gesundheitsdaten und E-Rezepte, sofern gewünscht, auch im europäischen Ausland nutzen können, um bei Bedarf die bestmögliche medizinische Versorgung zu erhalten.  

So kann eine Patientin aus Finnland ihr E-Rezept in einer spanischen Apotheke einlösen und eine Ärztin in Frankreich die Kurzakte eines Patienten aus der Tschechischen Republik abrufen. Wären wir beim Eurovision Song Contest, würde es leider heißen: Germany, zero points. Es bleibt die Hoffnung, dass Deutschland bei der Ausformung des Europäischen Raums für Gesundheitsdaten (EHDS), der sich derzeit im europäischen Gesetzgebungsverfahren befindet, von Anfang an mit dabei ist. Das wäre eine Chance, verlorenen Boden gutzumachen.

 

Online, App, Biometrie: Normalität in anderen Ländern 

Beim Durchklicken der oben zitierten Europakarte geben Menschen aus unseren Nachbar- und Partnerländern in einem Video beziehungsweise Statement ihre Alltagserfahrungen mit digitaler Gesundheit weiter.  

Maria aus Athen: „Wir haben eine Gesundheits-App, die fast alles kann. Rezepte, Medikamentenplan, Überweisungen, Arzttermine – all das sehe ich in der App. Kein Papierkram mehr, ich kann alles online nachschauen.“

Prya aus London: „Meine Arztangelegenheiten laufen inzwischen weitgehend digital ab. Meine Rezepte finde ich auch in der App. Besonders praktisch finde ich, dass diese sofort an meine Stammapotheke übermittelt werden. Ich muss nur noch hingehen und die Medikamente abholen. 

Daniel aus Island: „Die Gesundheitsversorgung in Island ist durchgehend digital. Das geht alles über das Patientenportal Heilsuvera. Ich logge mich immer über die Website mit meiner elektronischen Identität ein. Auch die Datensicherheit mit der eID-App überzeugt mich. Die Anmeldung mit der digitalen Identität funktioniert mit PIN und Biometrie oder mit der „Personal Certificate Card“ plus PIN. 

Dr. med. Markus Leyck Dieken | Geschäftsführer gematik GmbH | LinkedIn | Copyright: Christopher Ruckwied

Digitale Medizin muss niederschwellig verfügbar sein 

Diese Berichte zeigen, dass digitale Anwendungen von den Menschen genutzt werden, wenn der Zugang niederschwellig ist. Dafür ist es essentiell, dass Patient:innen per App oder online darauf zugreifen und sich „kurz und schmerzlos“ anmelden können.  

Mit der Modernisierung der Telematikinfrastruktur zur softwarebasierten TI 2.0 haben die gematik und ihre Gesellschafter vor bald drei Jahren den Kurs eingeschlagen, diesen komfortablen Zugang auch für das deutsche Gesundheitswesen zu ermöglichen – mit einer modernen Sicherheitsarchitektur und ohne Abstriche beim Datenschutz. 

Israel war in der Corona-Pandemie deshalb mit seinen Schutzmaßnahmen so erfolgreich und schnell, weil die Datenverarbeitung pragmatischer gehandhabt wurde. Die Menschen wurden per SMS zum Impftermin eingeladen. Der Staat funkt die Bevölkerung direkt auf dem Handy zu einer medizinischen Behandlung an? Ein Szenario, das in Deutschland undenkbar wäre.  

Im übrigen Europa wird der Datenschutz zugunsten der Nutzbarkeit der Anwendungen nicht lax gehandhabt. Für Maria in Athen und Daniel in Island gilt dieselbe Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) wie für Petra und Peter aus Berlin.  

Warum geht hier dennoch nicht, was dort geht?  

 

Biometrie: Praxisorientierte Sicherheit ist A und O 

Einer der Knackpunkte ist die vorsichtige deutsche Auslegung der EU-Vorgaben für den Login zu öffentlichen Services wie eGovernment oder den Gesundheitssektor. Pointiert formuliert: Nichts schlägt die Erfüllung einer ISO-Norm (18045), auch nicht die Frage der Praktikabilität. Die Electronic Identification, Authentication and Trust Services (eIDAS)-Verordnung hat das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zu sogenannten Vertrauensniveaus so konservativ interpretiert, dass aktuell kaum ein Gerät die in der BSI-Richtlinie vorgesehenen Ansprüche an Biometrie für den Einsatz auf Vertrauensniveau „hoch“ erfüllt. 

Dabei ist fraglich, ob es im Alltag sicherer ist, wenn ein Mensch eine sechsstellige PIN eintippt, die zum Beispiel in der Bahn von Mitfahrenden mitgelesen werden kann, als wenn er komfortabel die Gesichts- oder Fingerabdruckserkennung nutzt, um sich anzumelden. Andere europäische Länder haben das erkannt und den informationstechnischen Spielraum, den die EU den Mitgliedsstaaten bei der eIDAS gelassen hat, deutlich moderner ausgelegt. Es wird auch in Deutschland Zeit für eine Rückkehr zu dieser „praxisorientierten Sicherheit“, damit die Menschen die digitalen Anwendungen nutzen.

 

Gemeinsame nationale Aufgabe: digitale Aufholjagd meistern 

Ist es für eine zeitgemäße digitale medizinische Versorgung und Forschung in Deutschland also schon zu spät? Nein. Gesetze der vergangenen Legislaturperiode für mehr Digitalisierung und auch die aktuell geplanten, unter anderem zu digitalen Lösungen im Behandlungsalltag und zur Datennutzung, geben die notwendigen Grundlagen und den letzten Schub, das Ruder noch herumzureißen. Die digitale Aufholjagd haben wir 2019 in der gematik für die Telematikinfrastruktur und ihre Anwendungen begonnen und dazu auch alle anderen Akteur:innen und Stakeholder ins Boot geholt. Als Nationale Agentur für digitale Medizin, zu der sich die gematik in den vergangenen vier Jahren entwickelt hat, bieten wir seither einen neutralen runden Tisch im mehrheitlich selbstverwalteten Gesundheitssystem. Jetzt gilt es, diese Aufholjagd gemeinsam zu meistern. 


Weiterführende Literatur: 

Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (2021) BSI TR-03166 Technical Guideline für Biometric Authentication Components in Devices for Authentication. Abgerufen von: LINK 

Europäische Kommission (2023) Elektronische grenzübergreifende Gesundheitsdienste. Abgerufen von: LINK 

gematik GmbH (2023) Digitale Gesundheit in Europa. Abgerufen von: LINK  

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1 Kommentar

  1. Veröffentlicht von Joachim Maurice Mielert, Aktionsbündnis Patientensicherheit am 15. Dezember 2023 um 10:44

    Sowohl mit der Perspektive des Patient, als auch als Generalsekretär des Aktionsbündnis Patientensicherheit, bleibt bereits jetzt zu resümieren, dass Dr. Markus Leyck Dieken mit seiner maximalen Und international geprägten Expertise der Gematik einen Spirit gegeben hat, den zu konservieren ihr schwer fallen dürfte. Es braucht an der Spitze einer solchen Instanz Unternehmer, weniger Verwaltungsexperten. Dr. Leyck Dieken hat das notwenige Gen! Wo immer er ab 2024 neue Felder begleiten wird, hat er bei der Gematik und der anschließend tätigen Organisation die Messlatte ganz weit oben aufgelegt. Ob die Nachfolger dem gerecht werden können, wird sich erst erweisen müssen. Wir als das Netzwerk mit 450 institutionellen und weiteren 400 Einzelmitgliedern werden bedacht sein, die hervorragende Konversationsebene im Sinne der Patientensicherheit weiter zu verfolgen.

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