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Die Medizin in Zeiten der Digitalisierung und KI  

Kai-Uwe Hunsicker | Senior Medical Advisor & Recruitment Lead Lilian Care GmbH | LinkedIn | Copyright: privat

In Zeiten des digitalen Wandels durchdringt Technologie fast jeden Aspekt unseres Lebens. Die Gesundheitsbranche ist da keine Ausnahme, sondern der geschickte Einsatz von neuen Technologien und digitalen Werkzeugen wird immer wichtiger. Die Entwicklung der Medizin und die Art und Weise, wie Patient:innen versorgt werden, unterliegen von jeher einem stetigen Fortschritt. Durch die disruptiv auftretende Digitalisierung hat dieser Wandel an Intensität und Druck zugenommen. Damit wandelt sich auch in vielen Aspekten die Art und Weise, wie medizinische Fachkräfte arbeiten sollen, um Patient:innen gut zu versorgen, zu betreuen und zu heilen. 

Delegation und Supervision als Silberstreif inmitten dunkler Wetterlagen 
 
Vor diesem Hintergrund rückt die delegative Medizin als Konzept zunehmend in den Fokus, wenn Klinikdirektionen oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ)-Leitungen über ihre Abläufe nachdenken, um verborgene Potenziale zu heben. Was in anderen Ländern wie Kanada, in Skandinavien als auch in Estland schon in der Breite für Patient:innen ganz normal ist, findet nunmehr in Deutschland mehr und mehr Umsetzung. Die Gesundheitsversorgung organisiert sich mit ihren einzelnen Akteur:innen an vielen Stellen neu. Sie muss das auch, um nicht aus der Rentabilität zu fallen. Medizin in Deutschland findet heute noch mehr als vor 20 Jahren in der trinären Wirkung aus Effektivität, Fachkräftemangel und Digitalisierung statt. Es knirscht und rumort gewaltig. Eine der entscheidenden Stellschrauben für alle Akteur:innen, um dem nicht klinisch oder ambulant zu erliegen, besteht in der Delegation und Supervision von Aufgaben und deren Erledigung in Gestalt der Behandlung. Wer den Druck nur nach innen weiter reicht, ohne insgesamt den Wandel voranzutreiben, geht unter – oder ist es schon längst, wie sowohl viele weg gestorbene Kliniken und Heime als auch nicht mehr besetzbare Kassensitze in der deutschen Ländlichkeit belegen.

Delegative Medizin bezieht sich dem Konzept nach auf die Übertragung von ärztlichen Aufgaben auf nichtärztliches Personal oder andere medizinische Fachkräfte sowie Technologie, um die eigenen Ressourcen komplexeren Fällen zu widmen. Bei der medizinischen Versorgung spielt dies eine zunehmende Rolle, da die Ärzt:innen, Nurses und weitere medizinische Fachkräfte aufgrund der steigenden Patientenzahlen und des Zeitdrucks oft nicht mehr alle Aufgaben alleine bewältigen können- weder qualitativ noch quantitativ. Diese Disruption tritt deswegen nicht in allen Formen freiwillig auf, sondern wird durch einen Mangel an Fachkräften und einem Mehr an Patient:innen geradezu erzwungen. Die ausufernden Kosten drücken vielerorts noch zusätzlich. All dies verstärkt den Innovationsdruck auf jeden Akteur innerhalb der Patientenversorgung und ist der Hauptgrund, warum viele Kliniken und Heime zunehmend in die Bredouille geraten oder sogar ganz schließen müssen.

Besonders Ärzt:innen müssen sich an die neue Situation anpassen, weil sie zu Akteur:innen am Endpunkt eines Behandlungspfades werden – zu Supervisor:innen.

Patienten-zentrierte Medizin: Konzentration wertvoller Fähigkeiten und Kenntnisse 
 
Durch Delegation und den Einsatz moderner Technologien können beispielsweise bestimmte diagnostische Verfahren, wie Blutentnahmen, Anamnesen, Elektrokardiogramme und erste differentialdiagnostische Überlegungen von medizinischen Fachangestellten durchgeführt werden. Diese Fachkräfte unterstützen bei der Organisation des Praxisablaufs, bei Abläufen in einer Klinik sowie auch bei der gesamten Patient:innenkoordination. Darüber hinaus können auch nichtärztliche Gesundheitsberufe, wie zum Beispiel Gesundheitspflegekräfte, Physician Assistants, Physiotherapeut:innen oder Psycholog:innen, in die Patient:innenversorgung eingebunden werden. Diese führen spezifische Behandlungen oder Beratungen durch und entlasten Ärzt:innen bei der Betreuung der Patient:innen. 

Die delegative Medizin ermöglicht es den Fachkräften, insbesondere den Mediziner:innen, ihre Ressourcen effektiver zu nutzen und sich auf komplexe oder dringende Fälle zu konzentrieren. Gleichzeitig stellt sie sicher, dass die Patient:innen eine qualitativ hochwertige Versorgung erhalten, auch wenn sie nicht direkt von Ärzt:innen behandelt werden. In Deutschland zeigt eine Studie mit 1861 Fragebögen aus 61 Allgemeinarztpraxen, dass 30 Prozent der Patient:innen sich vorstellen können, ausschließlich von nicht-ärztlichem Fachpersonal behandelt zu werden. Der Prozess des gesamten Heilens als Teamleistung von A bis Z rückt mehr in den Fokus, die klassische Konzentration auf Ärzt:innen als pyramidal organisierte Behandelnde rückt in den Hintergrund. 

Agilität und Aufwand für mehr Effektivität 
 
Allerdings ist es wichtig, dass die Delegation von Aufgaben in der Medizin sorgfältig geplant und überwacht wird. Das wiederum stellt Medizincontrolling samt des Quality Managements (QM) vor ganz neue Herausforderungen und bricht mit tradierten Beurteilungsmodi. Die Sicherheit der Patient:innen und die Gewährleistung eines angemessenen Qualitätsstandards sollten immer oberste Priorität haben. In der Theorie ist dies einfach gesagt, beweist sich aber in der Praxis allein schon wegen nicht ausreichend potenter Softwaresysteme immer wieder als schwierig. Die Verwandlung eines laufenden Betriebs stellt auch eine große Herausforderung für das tätige medizinische Fachpersonal dar, weil die derart streng kooperative Medizin nicht Halt macht vor traditionellen Hierarchien. Aspekte wie eine klare Kommunikation und Koordination zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen sind hierbei unerlässlich. Besonders Ärzt:innen müssen sich an die neue Situation anpassen, weil sie zu Akteur:innen am Endpunkt eines Behandlungspfades werden – zu Supervisor:innen. 

Der Prozess der Akzeptanzfindung  
 
Nicht jede Fachkraft ist dabei gleich ein:e Freund:in von einer neuen Art der Medizin. In einer Interviewstudie unter Allgemeinärzt:innen und nicht-ärztlichem Fachpersonal zeigte sich, dass die Letztgenannten der Übernahme medizinischer Aufgaben aufgeschlossen gegenüberstehen, während Allgemeinärzt:innen eher skeptisch oder sogar negativ eingestellt waren.

Peter Schreiber | Vorsitzender des Ausschusses der Medizinstudierenden im Hartmannbund e.V. | LinkedIn | Copyright: privat

Die deutlicher werdende Segmentierung der Behandlung in Aufgaben und Stationen, die nicht nur Ärzt:innen umsetzen sollen, fordert von allen demnach auch ein Überdenken der eigenen Rolle. 
 
Ein Beispiel für delegative Medizin ist die Einführung von Telemedizin. Durch den Einsatz von Kommunikationstechnologien können Patient:innen ohne physischen Kontakt mit Ärzt:innen kommunizieren und Untersuchungen durchführen lassen. Dies ermöglicht es den Mediziner:innen, mehr Patient:innen zu erreichen und gleichzeitig Kosten und Wartezeiten zu reduzieren. Telemedizin hat das Potenzial, insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen die medizinische Versorgung begrenzt sein kann, einen echten Mehrwert zu bieten. Digitalisierung betrifft de facto das ganze Ökosystem von Kliniken und Praxen,- die gesamte IT und Telematik sowie digitale Gesundheitsanwendungen samt Wearables. Die Änderungen sind genauso tiefgreifend wie effektiv, wenn sie konsequent umgesetzt werden und von allen Fachkräften angenommen werden. 

Künstliche Intelligenz Assistenz mit dem Wissen einer globalen Bibliothek 
 
Neben der delegativen Medizin spielt die digitale Transformation eine entscheidende Rolle in der Medizin der Zukunft. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Big Data können Diagnosen und Behandlungen von Krankheiten revolutioniert werden. Algorithmen können medizinische Informationen analysieren und Muster erkennen, die für das menschliche Auge schwer zu erkennen sind. Dies kann Ärzt:innen dabei helfen, schnellere und präzisere Diagnosen zu erstellen und die Patientenversorgung zu verbessern. Aber die digitale Transformation betrifft auch die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen. Elektronische Patientenakten, mobile Gesundheitsanwendungen als DiGAs sowie Gesundheitssensoren sind nur einige Beispiele für die fortschrittliche Technologie, welche die Gesundheitsbranche durchdringt und zunehmend revolutioniert. Diese digitalen Werkzeuge können die Patient:innenversorgung verbessern, indem sie den Zugriff auf medizinische Informationen erleichtern und Patient:innen in die Lage versetzen, ihre eigene Gesundheit zu überwachen und zu verwalten. 

Die Medizin am Scheideweg 
 
Die Medizin der Zukunft wird fortwährend durch die Kombination von delegativer Medizin und digitaler Transformation geprägt sein. Allerdings gibt es dabei Herausforderungen und begründete Bedenken. Datenschutz und -sicherheit sind zentrale Anliegen, insbesondere wenn es um die Speicherung und den Austausch sensibler medizinischer Informationen geht. Der Schutz der Privatsphäre von Patient:innen muss gewährleistet bleiben, um das Vertrauen in die neue Technologie zu stärken. Darüber hinaus bestehen weitverbreitete Sorgen hinsichtlich der Rolle von Arbeitskräften in einer digital transformierten Arbeitslandschaft durch die Automatisierung und den Einsatz von KI, denen es adäquat zu begegnen gilt. Die Weichen für die weitere Entwicklung werden heute gestellt, indem die rechtlichen Rahmenbedingungen für die zukunftsträchtige Dualität delegativer Medizin und digitaler Transformation geschaffen werden und sich wagemutig Akteur:innen finden müssen und werden, um die Pionierrolle für dieses fruchtbare Feld einzunehmen. 

Digitalisierung in ihrer Entwicklung im bundesdeutschen Gesundheitswesen 

1970er: In den 1970er Jahren begann die Implementierung von Computern im deutschen Gesundheitswesen. Die IT-Systeme wurden hauptsächlich für administrative Aufgaben wie Abrechnungen und die Patient:innenverwaltung eingesetzt. 

1980er: In den 1980er Jahren wurden erste medizinische Geräte digitalisiert. Radiologische Bilder konnten nun elektronisch gespeichert und übermittelt werden. Telekommunikationsnetzwerke wurden eingeführt, um den Austausch von medizinischen Informationen zu erleichtern. 

1990er: Während der 1990er Jahre entwickelten sich elektronische Patient:innendatenbanksysteme weiter. Krankenhäuser und Arztpraxen begannen, elektronische Patientenakten einzuführen, um den Zugriff auf medizinische Informationen zu verbessern. Erste telemedizinische Anwendungen wurden entwickelt, die es Ärzt:innen ermöglichten, Patient:innen aus der Ferne zu untersuchen und zu behandeln. 

2000er: Mit dem Aufkommen des Internets wurden Onlineplattformen für den Austausch von Informationen zwischen Ärzt:innen und Patient:innen immer wichtiger. Elektronische Rezepte wurden eingeführt, um den Papierverbrauch zu reduzieren und die Effizienz in Apotheken zu verbessern. Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) begann, um den Austausch von medizinischen Daten zwischen verschiedenen Akteur:innen im Gesundheitswesen zu erleichtern. 

2010er: In der zweiten Dekade nach der Jahrtausendwende hat die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen stark zugenommen. Elektronische Patientenakten werden zunehmend genutzt, um den Informationsaustausch zwischen Ärzt:innen und anderen medizinischen Fachkräften zu verbessern. Die telemedizinische Versorgung hat weiter zugenommen, insbesondere in ländlichen Gegenden, in denen der Zugang zur Gesundheitsversorgung begrenzt sein kann. Mobile Gesundheitsanwendungen (mHealth) sind auf dem Vormarsch, um die Überwachung von Gesundheitsparametern zu ermöglichen und die Gesundheitsversorgung näher an die Patient:innen zu bringen. 

Trends ab den 2020er Jahren: Die Digitalisierung wird weiterhin große Auswirkungen auf die Medizin in Deutschland haben. Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen werden in der Diagnose und Behandlung von Krankheiten eine immer wichtigere Rolle spielen. Wearables und Implantate können kontinuierlich Gesundheitsdaten sammeln und Ärzt:innen helfen, frühzeitig auf Veränderungen im Gesundheitszustand ihrer Patient:innen zu reagieren. Big Data-Analysen werden die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente und Therapien vorantreiben. Die Interoperabilität von IT-Systemen wird verbessert werden, um einen nahtlosen Austausch von medizinischen Daten zu ermöglichen. Cybersecurity muss dabei eine zentrale Rolle spielen, um die Vertraulichkeit und Integrität von Gesundheitsdaten zu gewährleisten. 


Weiterführende Literatur: 

Kuschick, D., Dierks, M.T., Grittner, U., Heintze, C., Kümpel, L., Riens, B., Rost, L., Schmidt, K., Schulze, D., Toutaoui, K., Wolf, F., & Döpfmer, S. (2023) Patient perspective on task shifting from general practitioners to medical practice assistants – a quantitative survey in Germany. BMC Primary Care. Abgerufen von: LINK

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