
Vom Ende der Medizin, wie wir sie kennen
Alle sprechen von Digitalisierung, auch in unserem Gesundheitssystem. Digitalisierung allein wird jedoch kaum etwas bewirken, jedenfalls nicht für Patient:innen. Und noch schlimmer. Wir haben gegenwärtig überhaupt kein Gesundheitssystem! Das gegenwärtige Gesundheitssystem ist eher ein Krankheitssystem. Die mangelnde Vorsorge und das Fehlen eines grundlegenden Verständnisses der Krankheitsursachen führen dazu, dass eine Behandlung oft erst nach dem Auftreten ernster Symptome einsetzt, was per se schon einmal ineffizient ist. Und dann sind auch diese Behandlungen ineffektiv, sodass kaum ein:e Patient:in profitiert. Der medizinische Fortschritt seit 1900 basiert größtenteils auf der Kontrolle und Bekämpfung von Infektionskrankheiten durch Hygiene, Impfungen und die Gabe von Antibiotika.
Abgesehen davon gibt es kaum einen Zugewinn an Lebenserwartung. Arzneimittel haben häufig mehr Nebenwirkungen als Nutzen. Der Begriff „chronische Erkrankungen“ ist allein schon eine Kapitulation der Medizin. Krankheiten sind nur deshalb chronisch, weil ihre Ursachen nicht verstanden werden. Wenn ich die Ursache einer Krankheit nicht kenne, bleibt eben nur die Option, an den Symptomen zu laborieren und das zwangsläufig chronisch. Das Gesundheitssystem vernachlässigt zudem Männer und Menschen mit niedrigem Einkommen, die eine um fünf beziehungsweise sieben Jahre verkürzte Lebenserwartung haben; und beide Nachteile addieren sich sogar. So lebt eine wohlhabende Frau 12 Jahre länger als ein Mann mit niedrigem Einkommen.
Die Pharmaindustrie steht aufgrund hoher Kosten und stagnierender Erfolgsraten wahrscheinlich vor dem Niedergang. Mittlerweile kostet es 6,5 Milliarden US-Dollar, ein Arzneimittel erfolgreich auf den Markt zu bringen. Universitäre Forschung konzentriert sich fast ausschließlich auf Veröffentlichungen und eingeworbene Drittmittel, da diese – und nicht etwa erzieltes Patient:innenwohl – die wesentlichen Karrierekriterien sind. Niemand misst, was die Forschung von medizinischen Professor:innen für Patient:innen erreicht hat. Die finanzielle Ausrichtung unseres Systems auf Erstattung von Kosten statt auf Belohnung eines erzielten Ergebnisses führt zu zahlreichen Fehlanreizen wie unnötigen orthopädischen Operationen (Rücken, Schulter, Hüfte, Knie), Herzkatheter-Untersuchungen, MRTs, Grauer-Star-Operationen, zahnärztlichen Kronen und Brücken, et cetera; infolgedessen kommt es wiederum zu einer Kostenexplosion. Wir wissen aber, dass wir noch so viel Geld in unser jetziges System einspeisen können, wir werden keine besseren Ergebnisse für Patient:innen erzielen. Bestes Beispiel sind die USA mit ihrem teuersten Gesundheitssystem und der niedrigsten Lebenserwartung aller Industriestaaten. Aber auch Deutschland bildet sich oft ein, das beste Gesundheitssystem zu haben, belegt aber nur in Europa Platz 21, was die Lebenserwartung betrifft.
"Es braucht ganzheitliches Denken."
Der konzeptionell wohl schwerste Fehler, den die biomedizinische Forschung, aber auch die praktische Medizin gegenwärtig, macht, ist, sich den Menschen Organ für Organ aufzuteilen. Für jedes Organ gibt es Fachärzt:innen, eine Klinik und eine Forschungsdisziplin: die Kardiolog:innen, die Kardiologie und die Herz-Kreislaufforschung; die Neurolog:innen, die Neurologie und die Neurowissenschaften. Das ist auf der einen Seite verständlich gewesen, da man sich ja irgendwie das gesamte medizinische Wissen aufteilen musste, um es für das menschliche Gehirn beherrschbar zu machen. Doch zeigen schon die sogenannten „seltenen Erkrankungen“, bei denen nur ein Gen betroffen und ursächlich ist, dass diese Patient:innen sehr oft Symptome in vier oder mehr Organen haben. Das bedeutet, dass eine organbasierte Krankheitsdefinition und -struktur der Medizin keinen Sinn macht. Bei allen anderen Krankheitsursachen mit mehr betroffenen Genen sind eher noch mehr Organe betroffen.
Die Medizin muss also von einer organzentrierten zu einer ganzheitlichen Betrachtung übergehen. Prinzipiell kann jedes unserer 22.000 Gene eine Krankheit auslösen. Das ist wissensmäßig für das menschliche Gehirn nicht mehr beherrschbar. Die Zukunft der Medizin wird also allein deswegen im Zeichen der IT-Revolution und Bioinformatik stehen, die Ärzt:innen schon jetzt die Befundung von Röntgenbildern abnehmen.
Prof. Dr. Harald H.H.W. Schmidt | Professor für Pharmakologie und Personalisierte Medizin, Maastricht University | LinkedIn | Copyright: Prof. Dr. Harald H.H.W. Schmidt
In Zukunft aber werden sie mehr oder weniger selbstständig die Diagnosen stellen können – und das viel präziser und mit viel weniger Fehlern als gegenwärtig. Auch werden sie tagesaktuell und evidenzbasiert und nicht nach Gefühl oder „Erfahrung“ Therapieentscheidungen treffen. Wir werden so zu völlig neuen Krankheitsdefinitionen kommen, benannt nach einem molekularen oder genetischen Mechanismus und nicht mehr nach irgendwelchen Symptomen, die sich hieraus ergeben können. Das werden komplizierte Krankheitsbezeichnungen sein, genauso wie jetzt schon bei seltenen Erkrankungen, aber es werden präzise Diagnosen sein, die präzise Therapien nach sich ziehen.
„Zukunft hat bereits begonnen“
Eine derartig präzise Erfassung von Krankheitsrisiken eröffnet, weitergedacht, erstmalig eine ganz andere Welt, die uns gegenwärtig nahezu verschlossen ist, nämlich präzise Prävention und ein effizienteres Gesundheitssystem. Gegenwärtig geben wir in unserem Krankheitssystem, wie ich es gerne nenne, nur circa ein Prozent unseres Budgets für Prävention aus; und darin enthalten sind noch Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, die ja eigentlich keine Prävention darstellen, sondern nur die frühe Erkennung, nicht die Verhinderung der Krebserkrankung. Eine derartig präzise Medizin erfordert ganz andere Daten.
Wie bei einem Auto muss man alle Teile und deren mögliche Fehlfunktion kennen, um es zu reparieren, oder - noch besser - zu warten und rechtzeitig präventiv einzugreifen, bevor es zu einem Defekt (Symptom) kommt. Und zu diesen Teilen gehört unweigerlich das persönliche Genom, Mikrobiom (beziehungsweise dessen Metabolite), und unser persönliches Exposom. Letzteres fasst alles zusammen, was auf unseren Körper einwirkt, sei es durch unser eigenes Verhalten (Rauchen, zu viel Alkohol, schlechter Schlaf, zu wenig Bewegung, ungesunde Ernährung) oder die Umwelt (Stickoxide, Feinstaub, Hitze, Sonne). Technologien wie Smartphones und Wearables erfassen Verhaltensmuster und Umweltexpositionen, um einen gesunden Lebensstil zu fördern. KI-Algorithmen, wie jene von Symptoma oder Ada Health, unterstützen Ärzt:innen und Patient:innen bei der (Selbst)-Diagnose. Gleichzeitig wird die persönliche Verantwortung für die Gesundheit zunehmen. Und diese Zukunft hat bereits begonnen.
Gesundheitsvorsorge- statt Nachsorge
In den USA bildet sich gerade, wie das sogenannte Global Wellness Institute ausarbeitet, ein komplett neues Gesundheitssystem, bei dem Patient:innen nicht nur als gelegentliche Kund:innen andocken, sich bis zum nächsten Check-Up oder Verlängerungsrezept möglichst wieder geflissentlich entfernen und nicht weiter stören, sondern das sich permanent um sie kümmert – mit den verschiedensten Angeboten der Prävention. Dabei kommen komplett neue Gesundheitsdienstleister zum Tragen: Ernährungsberatung, Personal Training, Psychologie, Genetik und natürlich sehr viel Software auf dem Smartphone. Gesundheitsvorsorge durchzieht alle Lebensbereiche: die eigene Wohnung, den Arbeitsplatz, sogar den Urlaub und Hobbys. Alles ist so konzipiert, dass es nicht wie Pflicht oder Verzicht anmutet, sondern Spaß macht oder Genuss bietet. Prävention durch die Hintertür also, ganz individuell angepasst an die persönlichen genetischen Risiken. Klassische Medizin kommt noch vor, aber nicht mehr als zentrale Komponente. Im Idealfall sieht eine optimal betreute:r Patient:in niemals eine Praxis von innen.
Weiterführende Literatur
- Armstrong, G. L. (1999) Trends in Infectious Disease Mortality in the United States During the 20th Century. Journal of the American Medical Association. Abgerufen von: LINK
- Centola, D., Becker, J., Zhang, J., Kim, D. & Khoong, E. (2023). Experimental evidence for structured information-sharing networks reducing medical errors. Proceedings of the National Academy of Sciences. Abgerufen von: LINK
- Goh, K.-I., Cusick, M.E., Valle, D., Childs, B., Vidal, M. and Barabási, A.-L. (2007). The human disease network. Proceedings of the National Academy of Sciences. Abgerufen von: LINK
- Our World In Data. (2017) Life expectancy vs. health expenditure, 2015. Abgerufen von: LINK
- Scannell, J. W., Blanckley, A., Boldon, H. & Warrington, B. (2012) Diagnosing the decline in pharmaceutical R&D efficiency. Nature Reviews Drug Discovery. Abgerufen von: LINK
- Schmidt, H. (2021) Geheilt statt behandelt: Warum die Medizin am Ende ist und wie unsere Gesundheit eine Zukunft hat. Plassen Verlag
- Schork, N. J. (2015) Personalized medicine: Time for one-person trials. Nature. Abgerufen von: LINK