Deep Dive

Nachhaltige Versorgung psychisch erkrankter Menschen – digital und persönlich 

Psychische Erkrankungen betreffen in Deutschland jährlich etwa 30 Prozent der Erwachsenen, wobei vornehmlich Frauen und Menschen im mittleren Lebensalter erkranken. Studien zeigen, dass die Zahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen während der und bedingt durch die Corona-Pandemie massiv angestiegen ist, sodass ein zusätzlicher erheblicher Versorgungsbedarf auf das Gesundheitssystem zukommt und unter anderem auch die Sozialversicherungssysteme durch hohe Arbeitsunfähigkeitsquoten belastet werden.

Die Ressourcen zur Versorgung von psychisch erkrankten Menschen sind allerdings schon jetzt begrenzt: Bereits 2018 betrug die Wartezeit auf einen Therapieplatz für eine:n niedergelassene:n Psychotherapeut:in fast 20 Wochen, im ländlichen Bereich vier Wochen länger als in städtischen Ballungsgebieten – und im Anschluss an eine akutstationäre Therapie erhält eine relevante Anzahl der Patient:innen auf Grund fehlender Therapieplätze keine leitliniengerechte Weiterbehandlung im ambulanten Bereich.

Es bedarf also eines grundlegenden Umdenkens, wie Versorgung in diesem Bereich gestaltet werden kann. Zur Ergänzung der vorhandenen analogen Therapien sollen und müssen digitale Therapieformate eingesetzt werden, um die knappen zeitlichen und personellen Ressourcen der medizinischen Leistungserbringenden sinnvoll einsetzen und unterstützen zu können.

 

Der Wert der digitalen Therapie

Digitale Therapieformate finden entweder synchron mit direktem Ärzt:innen-Patient:innen-Kontakt statt oder werden als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) ohne direkten Ärzt:innen-Patient:innen-Kontakt eingesetzt. Zur Entscheidung, welche Therapieform wann gewählt wird (analog versus digital-synchron versus App) bedarf es einer umfassenden Analyse der individuellen Gegebenheiten der Patient:innen. Beeinflussende Faktoren sind beispielsweise Alter, die vorliegenden Erkrankungen und deren Ausprägungsgrad sowie die technische Affinität.

"Es bedarf also eines grundlegenden Umdenkens, wie Versorgung in diesem Bereich gestaltet werden kann"

Die Nutzung von digitalen Interventionen bei psychischen Erkrankungen ist nicht neu und erfolgt in Studien weltweit schon seit einigen Jahren, sodass ein hohes Maß an Evidenz verfügbar ist. Zur wissenschaftlichen Bewertung der Wirksamkeit digitaler Therapien werden seit den späten 1990er-Jahren Studien durchgeführt, die bestätigen, dass digitale Therapien in Bezug auf den Nutzen analoger Therapien gleichwertig sind und dass digitale Therapien besser sind als gar keine Therapie.  Die Nutzung von Gesundheitsapps nach einer analogen Therapie kann beispielsweise den Therapieerfolg sichern und einen Rückfall verhindern. 

Wie können diese Forschungsergebnisse nun in die Praxis umgesetzt werden und tatsächlich die Versorgung verbessern? Einige Beispiele sollen hier aufgeführt werden. 

 

1. Bereitstellung von Informationen vor einer Therapie  

Zur Vorbereitung einer Therapie können patient:innenspezifisch, das heißt, abhängig von der vorliegenden Erkrankung und der vorgesehenen Therapie Informationen zur Verfügung gestellt werden, sodass die Patient:innen bereits umfassend informiert die Therapie antreten und die medizinischen Fachkräfte auf diesem Vorwissen aufbauen können. 

 

2. Einbindung asynchroner digitaler Therapieelemente in die ambulante Versorgung 

Für viele Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen gibt es bereits zugelassene DiGAs, die in den Therapieprozess unterstützend eingebunden werden können. Die Verschreibung per Rezept ist bereits seit längerem möglich; nun bedarf es der umfassenden Information der verschreibenden Ärzt:innen, wie diese Apps effektiv eingesetzt werden können. 

 

3. Einbindung asynchroner digitaler Therapieelemente in die stationäre Versorgung 

Im stationären Bereich kann die reine Wissensvermittlung über Videos erfolgen, die online von der jeweiligen Klinik zur Verfügung gestellt werden und jederzeit durch die Patient:innen abgerufen werden können. Für den Nutzen dieser Videos im Sinne der Verbesserung des Resultats nach einem Reha-Aufenthalt gibt es hinreichend Evidenz, insbesondere dann, wenn für die Gestaltung der Videos psychologische Modelle und pädagogische Prinzipien genutzt werden.  

Alina Dahmen | Medizinische Direktorin, Klinikum Wolfsburg | LinkedIn | Copyright: Lars Landmann 

Bisher sind solche „innovativen“ Therapieergänzungen jedoch noch selten und eine direkte Refinanzierung ist nicht gegeben. Indirekt erwachsen Vorteile, weil die zeitlichen Ressourcen des medizinischen Personals geschont und auf die Themen begrenzt werden, die eines direkten Ärzt:innen-Patient:innen-Kontaktes bedürfen.  

 

4. Nutzen von digitalen Therapieformaten mit direktem Ärzt:innen-Patient:innen-Kontakt 

Um die medizinische Versorgung psychisch erkrankter Menschen auch dann sicherstellen zu können, wenn wohnortnah keine Therapieplätze zur Verfügung stehen, können die vornehmlich durch Gespräche gestalteten Therapien digital stattfinden. Wenn die Therapeut:innen vor der Nutzung von Videosystemen in der Technik und in den Möglichkeiten der inhaltlichen Gestaltung der digitalen Sitzungen geschult werden, sind digitale Therapieformate in Studien gleichwertig zu analogen Formaten in Bezug auf das Resultat. Hierfür geeignet sind sowohl Einzel- als auch Gruppentherapien. 

 

Wesentliche Grundlagen für die Umsetzung 

Um diese Ansätze tatsächlich umsetzen zu können, muss eine digitale Gesundheitskompetenz geschaffen werden. Patient:innen müssen befähigt werden, qualitätsgesicherte und verlässliche Gesundheitsinformationen zu suchen und zu verarbeiten. Gleichzeitig muss medizinisches Fachpersonal geschult werden, wie mit der zunehmenden Zahl an digitalen Möglichkeiten und auch digitalen Therapien umzugehen ist. 

Digitale Therapieelemente müssen in einen umfassenden analogen und digitalen Versorgungsprozess eingebunden sein und Bestandteil von medizinischen Leitlinien werden, damit die Leistungserbringenden einen Leitfaden haben, wann welche Therapieformate eingesetzt werden können. 

 

Fazit 

Diese Erkenntnisse sind nicht neu, bedürfen allerdings zur Umsetzung einer flächendeckenden Information und Aufklärung von Patient:innen und medizinischen Leistungserbringenden. 

Die Integration digitaler Therapieoptionen in den bisherigen analogen Behandlungsprozess muss jetzt systematisch eingeleitet werden, um die Versorgung psychisch erkrankter Menschen zu verbessern und gleichzeitig die Sozialversicherungssysteme tragfähig zu halten.  

Die Zukunft ist digital und persönlich. 

  

Weiterführende Literatur: 

Dahmen, A. (2022) ‘Psychosoziale Folgen der Corona-Pandemie – eine Herausforderung für die Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitssystem’, Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen. 

Dahmen, A., Gao, L., Keller, F.M., Lehr, D., Becker, P. & Lippke, S. (2022) ‘Curriculum Hannover – webbasierte vs. analoge Durchführung der psychosomatischen Nachsorge und vs. Care as usual’, Rehabilitation (Stuttg.). 

Keller, F.M., Dahmen, A., Derksen, C., Kötting, L. & Lippke, S. (2021) ‘Implementing Digital Trainings within Medical Rehabilitations: Improvement of Mental Health and Synergetic Outcomes with Healthcare Service’, Int J Environ Res Public Health. 

Lindhiem, O., Bennett, C.B., Rosen, D. & Silk, J. (2015) ‘Mobile technology boosts the effectiveness of psychotherapy and behavioral interventions: a meta-analysis’, Behavior modification. 

Lippke, S., Dahmen, A., Gao, L., Guza, E. & Nigg, CR. (2021) ‘To What Extent is Internet Activity Predictive of Psychological Well-Being?’. Psychology research and behavior management. 

Torous, J., Jän Myrick, K., Rauseo-Ricupero, N. &Firth J. (2020) ‘Digital Mental Health and COVID-19: Using Technology Today to Accelerate the Curve on Access and Quality Tomorrow’. JMIR ment health. 

 

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