Out of the Box

Wie digitale Diagnostiklösungen Psychotherapie revolutionieren werden

Es sind Zahlen, die mir Hoffnung machen. Laut einer repräsentativen Studie von Headspace, einer digitalen Plattform für psychische Gesundheit, sprechen 87% der befragten Führungskräfte offen über die Risiken von Burnout und Depression am Arbeitsplatz. Im Vergleich mit befragten CEOs aus den USA, UK und Australien führen die Deutschen das Ranking mit 95% sogar an. Ebenso stieg weltweit die Zahl der Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden Angebote machen, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern, von 61% in 2022 auf 91% in 2023. Die Nachfrage darauf ist immens: 99% der für die Studie befragten deutschen Arbeitnehmenden nutzen die angebotenen Mental-Health-Programme mindestens gelegentlich. Rundum gute Nachrichten, oder?

Der Bedarf ist groß
Jein. Einerseits zeigen die Zahlen, dass Menschen mit psychischen Beschwerden inzwischen viel weniger stigmatisiert werden - vor allem im Arbeitsumfeld. Leider verbirgt sich dahinter auch noch eine andere Wahrheit: Viele Menschen sind in Not. Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung e. V. gibt an, dass die Nachfrage nach Psychotherapie zwischen Januar 2020 und Juni 2022 bei den Kassenpraxen um 42 Prozent gestiegen ist. Bei den Privatpraxen ist die Nachfrage nach therapeutischer Unterstützung im gleichen Zeitraum sogar um 62 Prozent gestiegen. Es ist nicht abzusehen, dass sich dieser Trend umkehrt. Angesichts der gefühlten Dauerkrise, in der sich die meisten Menschen, ausgelöst durch Pandemie, Krieg und Klimakrise, befinden, ist eher davon auszugehen, dass der Therapiebedarf weiter steigen wird.

Ein Problem ist, dass die Zahl der Kassensitze seit 1999 begrenzt ist und seitdem nicht wesentlich erhöht wurde. Entsprechend kommt es zu langen Wartezeiten bei den Hilfesuchenden. Aktuell warten sie durchschnittlich fünf Monate auf einen Therapieplatz, in ländlichen Gebieten sogar bis zu einem Jahr. Der Frust ist groß, aber nicht nur auf Seiten der Menschen mit psychischen Beschwerden, sondern genauso auf Seiten der Therapeut:innen. Statt sich auf die Behandlung ihrer Patient:innen konzentrieren zu können, fühlen sich viele, als würden sie im Nebenjob noch in einem Callcenter arbeiten. Ständig klingelt das Telefon, der Anrufbeantworter ist voll und einen Platz können sie sowieso nicht anbieten. Aber Moment mal! Telefon? Anrufbeantworter? Da stimmt doch was nicht. Warum funktioniert die Suche nach einem Therapieplatz noch wie in den 80ern?

Digitale Lösungen eröffnen Chancen
In anderen medizinischen Bereichen werden freie Plätze längst viel häufiger über zentrale digitale Plattformen vergeben. Das sollte auch in der Psychotherapie Standard werden und würde Therapeut:innen genauso wie Patient:innen entlasten. Eine Grundlage dafür gibt es bereits. Seit 2016 sind die Kassenärztlichen Vereinigungen dazu verpflichtet, Terminservicestellen zu betreiben und Menschen mit psychischen Problemen innerhalb von wenigen Wochen zu vermitteln. Genutzt wird diese Terminvergabe bisher für Erstgespräche, psychotherapeutische Akutbehandlungen und probatorische Sitzungen. Warum nicht für einen langfristigen Therapieplatz? Beabsichtigt ist laut Krankenkassen eine zentrale Vermittlung, für die Umsetzung gibt es jedoch keine konkreten Pläne. Die von vielen geforderte gleichzeitige Erhöhung der zugelassenen Kassensitze lässt ebenfalls auf sich warten. Für Menschen mit akuten psychischen Beschwerden dauert das alles zu lange.

„Zu viele Patient:innen werden immer noch gebeten, ihre Stimmung mit Zettel und Stift zu tracken.“

 

Auch deshalb sind viele Betroffene inzwischen für digitale Lösungen im Bereich der mentalen Gesundheit offen. Laut dem Beratungsunternehmen McKinsey hat sich die Nutzung von ärztlich verschriebenen Apps gegen Depressionen oder Panikstörungen von 2021 auf 2022 verdreifacht. Natürlich ersetzt dieses Angebot keinen festen Therapieplatz, aber Hilfesuchende können so sinnvoll die Wartezeit überbrücken und fühlen sich nicht alleingelassen. Außerdem ermöglichen digitale Lösungen all denjenigen eine Chance, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern, die sich bisher mit einer klassischen Face-to-Face-Therapie noch schwergetan haben. Häufig liegt das daran, dass der Ablauf einer Therapie für die Betroffenen viel zu abstrakt ist und Ängste aufbaut. Durch die Nutzung von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) zur Bewältigung psychischer Beschwerden können Anwendende direkt erfahren, worum es geht. Sie lernen Schritt für Schritt, in sich hineinzuhorchen, auf tägliche Unterschiede ihres Befindens zu achten, und werden so zum aktiven Gestaltenden ihres eigenen Heilungswegs. Das erhöht die Selbstwirksamkeit und bereitet eine klassische Therapie vor. Wünschenswert wäre es deshalb, wenn noch mehr Therapeut:innen aktiv diese Möglichkeit kommunizieren oder wenigstens auf ihrem Anrufbeantworter darauf hinweisen.

Laura Henrich | CEO von Klenico Health GmbH | LinkedIn | Bildcredit: Robert Spang

… und können „klassische“ Therapie verbessern

Digitale psychotherapeutische Lösungen können aber noch mehr. Sie eignen sich nicht nur zur Überbrückung der Wartezeit oder als Vorbereitung einer „klassischen“ Therapie, sondern können gut in einen solchen Ablauf integriert werden. Zu viele Patient:innen werden immer noch gebeten, ihre Stimmung mit Zettel und Stift zu tracken. Das geht mit digitalen Tools besser, ist viel näher an der Lebensrealität der meisten Menschen und ermöglicht eine effizientere Auswertung. Außerdem kann die therapeutische Arbeit zwischen Terminen eigenständig durch Selbsthilfemodule, digitale Tagebücher und andere therapeutische Übungen fortgeführt werden. Darüber hinaus sind Therapiefortschritte durch die digitale Dokumentation viel leichter nachvollziehbar. All das ermächtigt Patient:innen und erhöht die Chance auf einen Behandlungserfolg. Vermutlich liegt hier der Nachholbedarf zur Nutzung eher auf Seiten der behandelnden Therapeut:innen. Deshalb ermutige ich zu mehr Eigeninitiative, sich mit den Potentialen von digitalen Gesundheitsanwendungen für die Therapie auseinanderzusetzen.

Ähnlich großes Potential und auch die Möglichkeit einer besseren Steuerung der Versorgung liegt in der Digitalisierung der Diagnostik. Klassischerweise stützen sich Psychotherapeut:innen noch immer auf Selbstaussagen ihrer Patient:innen, statt auf moderne und klinisch validierte Diagnosetools. Diese können inzwischen dank KI für sämtliche psychische Symptome und Krankheitsbilder innerhalb kürzester Zeit eine gesamtheitliche Diagnose stellen, sparen so wertvolle Zeit und ermöglichen eine zielgerichtete Therapie. Auch hier ist davon auszugehen, dass von psychischen Beschwerden betroffene Menschen viel offener für digitale Lösungen sind, und sei es aus der Not heraus: Laut Axa Mental Health Report 2023 diagnostizieren sich immer mehr Menschen selbst online. Aktuell sind es schon 16 Prozent der Befragten, im Vergleich zu 12 Prozent in 2022. Es überrascht wenig, dass vor allem junge Menschen sich so Hilfe suchen: 40 Prozent der 18- bis 24-Jährigen geben an, sich im Internet selbst diagnostiziert zu haben. Jeder vierte junge Erwachsene behandelt sich laut der Umfrage außerdem selbst. Diese Zahlen sollten jede:n Psychotherapeut:in alarmieren. Ich finde, es ist höchste Zeit, sich für digitale Lösungen zu öffnen und die bereits vorhandenen Potenziale noch viel stärker zu nutzen. Sonst verlieren wir insbesondere junge Erwachsene an selbsternannte Internet-Selbsthilfe-Gurus, die weder gesicherte Diagnostik noch gesicherte Therapiekonzepte anbieten.

 

Über die Autorin

Seit fast zehn Jahren treibt Laura Henrich Digital Health-Innovationen in verschiedenen Führungspositionen voran, unter anderem als Chief Marketing Officer von midge medical, dem Entwickler eines Verfahrens zur vereinfachten Blutentnahme und -testung, einschließlich Digitalisierung des Bluttestverfahrens, und als Business Development Director von welldoo, einem Startup, das Gesundheitsapps für Krankenkassen und Pharmaunternehmen entwickelt. In ihrer aktuellen Rolle als CEO von Klenico verfolgen ihr Team und sie ein großes Ziel: Die Revolution der Psychotherapie. Das Unternehmen hilft Menschen mit psychischen Beschwerden dabei, schnell und einfach die richtige Diagnose zu erhalten, die passende Therapie zu finden und ihre psychische Gesundheit zu monitoren und zu tracken. Basis dafür ist die Klenico Clinical Software, das erste klinisch validierte Diagnosetool auf KI-Basis im europäischen Raum.

 


 

Weiterführende Literatur:

  • Ärzteblatt (2022) Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche höher als vor Corona. Abgerufen von: LINK
  • AXA (2023) AXA Mental Health Report 2023. Abgerufen von: LINK
  • Business Insider Deutschland (2022) Apps gegen Depressionen und Panikstörungen: Laut Erhebung nimmt die Nutzung deutlich zu. Abgerufen von: LINK
  • HeadSpace (2023). Work from anywhere: how to stay productive and happy in 2023. Abgerufen von: LINK
  • Rauschenberger, P. & Padberg, T. (2019) Therapieland Deutschland - Hinter den Kulissen der Psychotherapie. Deutschlandfunk Kultur. Abgerufen von: LINK
  • Stiftung Warentest (2023) Mit Terminservice zur Akutbehandlung. Abgerufen von: LINK
  • Trümper, A. (2023) Tagesschau. Abgerufen von: LINK
  • Wengert, T. (2023) ZDFheute. Das lange Warten auf mehr Therapieplätze. Abgerufen von: LINK

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