Digitalisierung, made in Israel
Die Stille im Raum war hörbar, als den Expert:innen aus dem deutschen Gesundheitswesen im Hadassah Medical Center in Jerusalem erklärt wurde, dass die Uniklinik komplett(!) papierlos arbeitet. Da es auf dem Markt keine geeignete Software gab, hieß es, habe man diese kurzerhand selbst entwickeln lassen. Das war 2009.
Mit diesem Pragmatismus treibt Israel die Digitalisierung im Gesundheitswesen seit mehr als zwei Jahrzehnten voran. Die elektronische Patientenakte ist flächendeckend im Einsatz, auf elektronische Rezepte wurde längst umgestellt. Während Deutschland im „Digital Health Index“ der Bertelsmann Stiftung 30 Punkte erreicht und auf Platz 16 von 17 untersuchten Ländern liegt, schafft es Israel auf 72,4 Punkte und auf Platz vier.
Solidarität ist ein wichtiger Grundpfeiler
Das Gesundheitswesen Israels basiert auf dem Solidarprinzip, so dass jede:r Bürger:in das Recht auf medizinische Versorgung hat. In Israel gibt es mit Clalit, Maccabi, Meuchedet und Leumit vier Gesundheitspflegeorganisationen (Health Maintenance Organization, HMO) in denen annähernd 100 Prozent der Bevölkerung versichert sind. Der Beitrag wird abhängig vom Einkommen erhoben. Der gesetzliche Leistungskatalog wird jedes Jahr vom Gesundheitsministerium evaluiert und aktualisiert. Die HMOs konkurrieren um Mitglieder, was ihre Innovationsbereitschaft fördert. Der Staat legt für ihre digitalen Strategien einen gesetzlichen Rahmen fest. Die Sicherheit und Qualität werden von den HMOs selbst verantwortet.
Große Herausforderungen, begrenzte Mittel
Die Innovationskräfte im israelischen Gesundheitswesen werden auch von den großen Herausforderungen im Land angetrieben. Die Einwohnerzahl hat sich seit der Staatsgründung 1948 auf rund 9,7 Millionen entwickelt und damit mehr als verzwölffacht. Auch wenn die Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 29,1 Jahren (2022) jung ist, wächst die Zahl der über 65-Jährigen stetig. Dazu kommt, dass das Land große Summen für Sicherheit und Militär aufbringen muss. Während Deutschland im Jahr 2021 für sein Gesundheitssystem 13,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausgegeben hat, waren es in Israel 8,6 Prozent. Trotz des niedrigeren Budgets gilt das israelische Gesundheitswesen als hochfunktional. Die Lebenserwartung ist eine der höchsten weltweit (⌀ 83 Jahre).
„Ich denke, gesund zu sein ist wichtiger, als unsere Privatsphäre zu schützen“
Prof. Dr. Avram Hershko | israelischer Chemienobelpreisträger | FAZ
Erfolg als Start-up-Nation
Diese Entwicklung im Gesundheitswesen geht mit der Entwicklung als Start-up-Nation einher. Israel ist einer der wichtigsten Innovationshubs. Mit rund 7.000 Startups hat das Land weltweit die höchste Pro-Kopf-Dichte an jungen Unternehmen. Erfolgsfaktoren sind die zahlreichen Acceleratoren im Land, Innovationshubs, staatliche Förderprogramme, die Armee, Top-Universitäten und Forschungseinrichtungen, kurze Wege und flache Hierarchien. Gleichzeitig gelten Israelis als Early Adopter.
Maike Diehl | Geschäftsführerin von Diehl Relations GmbH | LinkedIn | Bildcredit: Diehl Relations GmbH
Pragmatischer Umgang mit Datenschutz
Während in Deutschland digitalen Lösungen oftmals der Datenschutz im Weg steht, geht man dieses Thema in Israel pragmatischer an. „Ich denke, gesund zu sein ist wichtiger, als unsere Privatsphäre zu schützen“, zitiert die FAZ den israelischen Chemienobelpreisträger Prof. Dr. Avram Hershko, und damit eine weit verbreitete Haltung. Das hat auch der Umgang mit der Corona-Pandemie gezeigt. So vereinbarte Israel mit Pfizer, dass es für eine frühe Lieferung des BioNTech-Impfstoffs Real-World-Daten zur Wirksamkeit des Vakzins zur Verfügung stellt. Möglich ist das, weil die HMOs seit mehr als zehn Jahren Daten digital erfassen. Um diesen Datenschatz geht es auch bei der sog. „Mosaic-Initiative für Personalisierte Medizin“. Im März 2023 wurde bekannt, dass Clalit ein Projekt startet, bei dem die genetischen Informationen von Spendern mit den klinischen Informationen, die bei der HMO und beteiligten Krankenhäusern gespeichert sind, abgeglichen werden.
Der Staat fördert Innovation
Für die digitale Entwicklung des Gesundheitswesens stellt der Staat unterdessen große Summen zur Verfügung. So wurde 2018 das „Nationale Programm zur Förderung des digitalen Gesundheitswesens“ verabschiedet, mit einem Budget von umgerechnet rund 260 Millionen Euro und eine Laufzeit von fünf Jahren.
Wie geht es weiter?
Die innenpolitische Lage ist aktuell aufgewühlt: Seit Wochen demonstrieren Menschen in Israel gegen die rechts-nationale Regierung unter Benjamin Netanyahu, und gegen deren Vorhaben, Teile des Justizsystem zu ändern. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht darin einen Angriff auf die Demokratie. Doch Innovation braucht Demokratie, macht die Startup-Szene klar. Zudem hat die Israeli Innovation Authority eine deutliche Budgetkürzung gemeldet. Ob diese Entwicklung dazu führt, dass sich das Innovationstempo im israelischen Gesundheitswesen verlangsamt, wird die Zukunft zeigen. Bis hierher hat das kleine Land beeindruckend vorgelegt.
Weiterführende Literatur:
- Kostera, T. & Thranberend, T. (2018) “Spotlight Gesundheit - Thema: #Smart Health Systems“. Bertelsmann Stiftung. Abgerufen von: LINK
- Halpern, T. (2023). “Israel among top 10 countries with longest life expectancies.” Jerusalem Post. Abgerufen von: LINK
- Israel National Digital Agency. (n.d.). Mosaic. Abgerufen von: LINK
- Shulman S. (2023). “Israel Innovation Authority's budget to be cut by NIS 100 million”. Abgerufen von: LINK
- Startup Nation Central. (n. d). Abgerufen von: LINK
- The State of Israel - Ministry of Health. (n. d.) Abgerufen von: LINK (zuletzt aufgerufen am 24.05.2023)
- Vehling, LM. (2018). “Israel: Kleines Land, große Medizin.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung. Abgerufen von: LINK