Long Read

Kommunikation für Patient:innen geht nur mit Patient:innen

Stell Dir vor, Du scrollst durch Deinen Social-Media-Feed, Instagram oder vielleicht auch TikTok. Schaust Dir Videos auf YouTube an. Du bist nicht nur da, um Dir die Zeit zu vertreiben. Du bist auf dieser Plattform, weil Du vor einigen Stunden, Tagen oder auch Wochen eine unheilbare Krankheit diagnostiziert bekommen hast. Weil vor einigen Stunden, Tagen oder auch Wochen mal eben so Deine Welt zerbrochen ist, oder zumindest einen gehörigen Sprung bekommen hat.

 

„Beides ist wahr“

Es ist drei Uhr morgens. Vielleicht hast Du Schmerzen, einen Tropf im Arm, vielleicht bist Du auch zu Hause und irgendwie ist alles wie immer und gleichzeitig ist nichts mehr wie zuvor. Stell Dir vor, Du tippst den Namen der Diagnose in das Suchfeld Deiner Social-Media-App... und findest dort Tausende von Accounts. Manche werden von Menschen betrieben, die die gleiche Erkrankung wie Du haben. Manche werden von Pharmaunternehmen betrieben (das fällt manchmal sofort, manchmal erst beim genauen Hinschauen auf). Manche der Accounts stellen in den Vordergrund, dass die Krankheit ein absolutes Miststück ist – und manche, wie die Krankheit das Leben im Positiven beeinflusst hat. Beides ist wahr. Stell Dir vor, Du findest auf Social Media eine Mischung aus persönlichen Erfahrungsberichten und einfühlsam gestalteten, geprüften medizinischen Informationen. Weiterführende, gut gestaltete Websites. Du findest dort eine Community, andere Menschen, mit denen Du Dich austauschen kannst. Menschen, die wissen, wie schwer die Last gerade wiegt und wie verwirrend die erste Zeit nach der Diagnose ist.

 

Und jetzt stell Dir vor, Du bleibst auf einem Account stehen, der zu Deiner Erkrankung aufklärt. Dort prangt ein Bild, auf dem der Spruch steht: „Ein Tag ohne ein Lächeln ist ein verlorener Tag“. Und Du liegst da, Nadel im Arm, Krankenhaushemd an oder von Schmerzen durchzuckt und denkst Dir: Aha.

"Wir können lernen, zuzuhören. Wir können lernen, auch negative Gefühle und Aussagen existieren zu lassen."

 

Was würde der Spruch mit Dir machen?

Ich erzähle Dir diese Geschichte aus drei Gründen:

 

  1. Auch wenn Du es versuchst, wirst Du nie zu 100 Prozent verstehen können, wie man sich in einer solchen Situation fühlt (auch nicht, wenn Du Kommunikationsprofi bist) – es sei denn, Du warst schon einmal in einer solchen Situation.
  2. Ich kenne hunderte Menschen, denen es nach ihrer Diagnose exakt so erging.
  3. In einer perfekten Welt möchte ich nie wieder so einen Kalenderspruch auf einem Pharma-Account für chronisch kranke Menschen sehen, da er nichts weiter als blanker Hohn ist.

 

Auch ich lag im Oktober 2013 im Krankenhaus, die Diagnose Multiple Sklerose (MS), mein Gesicht in das bläuliche Licht meines Handyscreens getaucht. Auch ich suchte online nach Antworten. Damals gab es kaum Social-Media-Accounts im deutschsprachigen Raum, die sich mit der MS beschäftigten (einer der Gründe, warum ich später selbst einen solchen startete). Ich hatte bis auf die Diagnose einen Stapel bunter Broschüren von Pharmaherstellern mit sehr, sehr glücklichen Menschen darauf und einigen tausend Milligramm Kortison nicht viel an die Hand respektive in die Vene bekommen, und so musste „Dr. Google“ die Aufklärung übernehmen, die die Stationsärztin in wenigen Sekunden heruntergerattert hatte. Eines kann ich Dir versichern: An diesem Tag war mir nach vielem, aber nicht nach Lächeln zumute. Ein verlorener Tag.

 

Aus einem „Ich“ wird ein „Wir“

2017, als ich begann, mit der Diagnose einen eigenen Weg zu finden, gründete ich meinen MS-Blog chronisch fabelhaft. In den Jahren darauf sprossen Socia-Media-Accounts zu dem Thema wie Frühblüher aus dem Boden, aus einem „Ich“ wurde ein „Wir“: Wir, die MS Community. Wir, die plötzlich Raum zum Austausch fanden. Wir, die plötzlich nicht mehr allein waren mit dieser lebensverändernden Diagnose. Die meisten dieser Accounts wurden von Privatpersonen betrieben, einige von semi-professionellen Bloggern, und einige von Pharmafirmen. Und immer wieder passierte es: Ein Pharma-Account postete einen Kalenderspruch. Darauffolgend: Eine Welle der Empörung, nicht immer ein „Shitstorm“, aber ein kleines Stürmchen hier und da. Weil uns mal wieder von einem Instagram-Kanal, der von gesunden Menschen in einer Marketingagentur für uns kranke Menschen betrieben wurde, suggeriert wurde, dass wir nur mehr lächeln, mehr Sport treiben, mehr Wasser trinken und einfach happier sein sollten, dann wäre das Leben mit der Krankheit nur halb so hart. Stay positive. Diese gut gemeinten Plattitüden versacken im besten Fall in der Belanglosigkeit irgendwo unten im Instagram-Feed. Im schlimmsten Fall liest das jemand, der gerade schon genug an sich zweifelt, und sich dadurch getriggert fragt: Kann ich das Leben mit dieser Krankheit überhaupt irgendwie bewerkstelligen? Auch wenn ich heute keinen Sport gemacht, keine zweieinhalb Liter Wasser getrunken habe und generell ziemlich unhappy war?

Samira Mousa | Grunderin & CEO von Healthy Content. Sick Ideas. | LinkedIn | Copyright: Samira Mousa

„Da muss Realität sein“

Ich möchte Dich an dieser Stelle fragen: Ist das wirklich das Beste, was wir Patient:innen bieten können? Mit all den Möglichkeiten der Kommunikation, die sich heute bieten, und mit den wirklich großen Ressourcen, die Pharmafirmen in ihre Kommunikation stecken? Ich bin mir sicher, dass Du mir zustimmst: Da geht nicht nur mehr, da muss mehr! Da muss Verständnis sein, da muss Zuhören statt Kalenderspruch sein. Da muss Realität sein. Da muss Schmerz Platz finden, Trauer über die zerplatzten Träume, Wut. Da muss Aufgeben-wollen erlaubt sein, weil Aufgeben-wollen und -dürfen auch dazugehört.

 

Natürlich soll dieser Artikel nicht nur aufzeigen und den Finger heben, sondern aufrütteln und vor allem: befähigen. Wir, die in der Healthcare-Kommunikation Tätigen, sprechen immer darüber, wie wir Patient:innen befähigen, wie wir sie empowern können. Wir könnten uns aber parallel auch fragen, wie Patient:innen uns dazu befähigen können, bessere, relevantere, realistischere Kommunikation zu schaffen. Dies passiert zum Glück immer öfter. Patient:innen werden endlich als die Expert:innen erkannt, die sie sind. Sie werden vereinzelt als Berater:innen eingeladen, manchmal dürfen sie sogar auf einer Bühne sprechen. Das ist kein Trend. Das ist nur der Anfang. Das ist die Zukunft. Wir müssen damit aufhören, Patient:innen als Menschen zu sehen, die von uns lernen können, sondern als Menschen, von denen wir alle lernen können. Wir können lernen, zuzuhören. Wir können lernen, auch negative Gefühle und Aussagen existieren zu lassen. Wir können lernen, welche Angebote diese Menschen wirklich brauchen. Wir können im Ansatz verstehen, welche Herausforderungen diese Menschen haben. Oft sind das Herausforderungen, von denen wir gar nichts wussten.

 

Wir sind hier, lasst uns sprechen

Derzeit haben 40 Prozent der deutschen Bevölkerung eine chronische Erkrankung. Wieso gehen wir also davon aus, dass es unter all diesen Menschen nicht auch Expert:innen gibt, die sehr gut darin sind, Unternehmen und Agenturen zu beraten und zu begleiten? Natürlich kann nicht jede:r Patient:in diese Rolle gleich gut einnehmen, aber eben oft trotzdem besser als jemand, der sich nur hineinfühlen kann. Authentische Erfahrung schlägt Hineinfühlen. Immer.

 

Lasst uns gemeinsam eine neue, eine bessere, eine realistischere Art der Patient:innenkommunikation schaffen, indem wir den bekannten Spruch von Michael Masutha, einem südafrikanischen Politiker und Disability-Aktivisten nicht nur daher sagen, sondern in jedem Post, jeder Aktivität, jedem Angebot würdigen: „Nothing about us without us“.

unsere Gründungspartner:

Hinterlassen Sie einen Kommentar