Streitgespräch

Streitgespräch: Orientierung im Gesundheitswesen

UH: Was brauchen Patient:innen, Eurer Meinung nach, um sich im Gesundheitswesen zurechtzufinden und das zu bekommen, was sie wirklich brauchen?

 

Peter: „Aus meiner Sicht sind folgende Punkte wichtig: leicht zugängliche, verständliche und verlässliche Informationen zu Krankheiten, zu Therapien und zu digitalen Anwendungen. Wir brauchen verlässliche Qualitätskriterien für Ärzte und Kliniken, die auch leicht abrufbar sind, damit der Patient sich orientieren kann.

Wir brauchen viel mehr Präventionsangebote – und eine offensive Werbung dafür.

Wir brauchen einfachere digital zu bedienende Anwendungen. Wir benötigen eine Stärkung von Physiotherapie, vor allem bei Gelenkerkrankungen. Wir brauchen generell mehr Therapieangebote statt Medikamente.“

Peter Herrchen | Journalist, Autor, Gründer ArthroseKompetenzNetzwerk TEPFIT e.V. | LinkedIn | Copyright: Peter Herrchen

Christian: „Natürlich ist vor allem primär der Leistungserbringer, insbesondere die Ärztin oder der Arzt, in der Kommunikation mit den Patient:innen und muss da wesentliche Informationen rüberbringen. Deshalb brauchen Leistungserbringer mehr Kommunikationskompetenz. Das ist etwas, was im Moment im Studium zu kurz kommt. Aber auch wir als Krankenkasse haben definitiv die Aufgabe, den Versicherten Informationen zur Verfügung zu stellen, die effektiv helfen. Da bauen wir unser Angebot kontinuierlich aus, auch im digitalen Bereich. Für uns als Kasse gilt: Bei der Verständlichkeit können wir manchmal noch besser werden etwa durch kundenfreundlichere und verständlichere Formulierungen.

 

Patient:innen nutzen auch verstärkt selbständig recherchierte Informationen, die im Internet verfügbar sind und von qualifizierten Anbietern kommen. Wir haben aber das Problem, dass es zurzeit eine große qualitative Bandbreite gibt: Sehr seriöse Anbieter konkurrieren mit Online-Angeboten, die eher werblichen oder ideologisch gefärbten Charakter haben. Hier braucht der Patient Hilfe bei der Einschätzung der Qualität.“

 

Peter: „Ja, ein wirkliches Qualitätsmerkmal für medizinische Angebote im Netz fehlt. Meiner Meinung nach braucht es da den politischen Willen,

Qualitätskriterien vorzugeben, um Internetangebote kennzeichnen zu können. Das gilt für die Krankenkassen genauso wie für die Angebote von privaten Anbietern, politischen Organisationen, Gesundheitsorganisationen, von Krankenhäusern oder vom Bundesministerium für Gesundheit. Das ist für mich das A und O. Da dies aber vermutlich leider nicht kurz- und mittelfristig geschehen wird, ist ein hohes Maß an Medienkompetenz und auch Fachwissen des Patienten notwendig, um valide Informationen finden und qualitativ beurteilen zu können.“

 

Christian: „Eine Lösung wäre, dass man tatsächlich überlegt, ob man die Seiten, die einen gewissen Qualitätsanspruch erfüllen, mit einer Art Gütesiegel versieht. In der Pandemie entstanden ja leider sehr viele unseriöse Angebote mit kompletten Falschinformationen im Internet. Mit einem Qualitätssiegel könnte man Vertrauen schaffen und den Patient:innen verlässlich Orientierung geben, ob das jetzt seriös ist oder nicht.“

 

Peter: „Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Ein verlässliches Gütesiegel ist genau das, was notwendig ist!“

UH: Stichworte Case Management und Patient Journey. Wäre das nicht eine Idee, um Patient:innen viel personalisierter zu versorgen?

 

Peter: „Es gab und gibt ja diese Initiativen, aber das Problem ist, dass hier schier unendlich viele Player im Gesundheitswesen zusammenarbeiten müssen, damit das funktioniert. Das heißt, es müssen die Krankenkassen mit den Ärzten, mit den Physiotherapeuten, mit allen sonstigen Leistungserbringern wie z.B. Krankenhäusern und Interessenverbänden eng kooperieren. Genau daraus ergibt sich bei uns im Gesundheitswesen das Hauptproblem:
Die unterschiedlichen Stakeholder und Interessenvertretungen mit jeweils eigenen Partikularinteressen wollen aus meiner Sicht überhaupt nicht zusammenarbeiten, da vermutlich alle hauptsächlich daran interessiert sind, ihre eigene Pfründe so lange wie irgend möglich zu sichern.“

 

Christian: „Es gibt definitiv einen Platz im Gesundheitswesen, insbesondere für schwer chronisch erkrankte Patienten, solche Modelle anzubieten, egal ob man sie jetzt Case Management, Gesundheitslotse oder ähnlich nennt. Es gibt ja diverse Modellvorhaben, die solche Dinge auch erprobt haben beziehungsweise noch erproben, und wo die Ergebnisse positiv sind, wenn sie sich an richtige Zielgruppe wenden. Es wird aber nicht gehen, dass jeder Schnupfenpatient seinen Lotsen bekommt, der ihn während der Erkrankung begleitet. Aber für die wirklich schweren Fälle bei chronischen Erkrankungen bietet Case Management für den Patienten und für das System Vorteile. Wir als Kasse hätten durchaus Interesse daran, solche Angebote auch selber zu übernehmen, aber dafür bedarf es aus rechtlichen Gründen auch eines dezidierten Auftrages des Gesetzgebers an die Kassen.“

 

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Christian Traupe | BARMER-Abteilungsleiter
Ambulante Versorgung und Vertragsstrategie | LinkedIn | Copyright: Christian Traupe

Peter: „Und es braucht natürlich einen umfassenden intersektoralen Austausch von Daten. Damit könnte unser Gesundheitswesen viel effektiver und auch kostengünstiger arbeiten. Stichwort ‚Value-Based Healthcare‘.

 

Christian: „Ja, jeder Lotse oder Gesundheitsmanager hat ein Riesenproblem, wenn nicht die relevanten Informationen verfügbar sind. Grundsätzlich ist es schon so, dass Digitalisierung völlig neue Möglichkeiten schafft. Vor allem ermöglicht die Digitalisierung individuellere Informationsangebote. Wir haben bislang immer nur allgemein von dem Patienten gesprochen, aber es gibt ja nicht den Patienten, sondern verschiedene Gruppen von Patienten, die unterschiedliche Informationsbedürfnisse haben – vom Umfang, von der Sprache, von den medizinischen Vorkenntnissen her und Ähnlichem. Da sind wir mit digitalen Angeboten dabei, individuell darauf zu reagieren und teilweise Interaktionsmöglichkeiten zu schaffen. Und das ist dann wirklich ein Informationssprung im Vergleich zu der alten Welt der gedruckten Patientenbroschüre aus dem Wartezimmer.“

 

Peter: „Ja, ich bin da leider wesentlich skeptischer. Wenn ich mir z.B. anschaue, wieviel Jahrzehnte hier von einer digitalen Patientenakte gesprochen wird und bis heute davon so gut wie nichts umgesetzt ist. Ich habe zwar diese Akte, diese App schon seit zwei Jahren auf meinem Smartphone, kann aber damit null Komma null anfangen, weil keine einzige Information, Diagnose, kein Arztbericht oder ein sonstiges Angebot von meinen Ärzten und meiner Krankenkasse dort hinterlegt werden können, bzw. die ePA nicht automatisch damit gefüllt wird. Ich wüsste nicht, warum sich das in den nächsten fünf Jahren ändern sollte. Ich sehe leider keinen hoffnungsvollen Ansatz. Und auch wenn Karl Lauterbach das ab 2024 zur Pflicht macht, nützt das nichts, wenn Patienten die ePA nicht akzeptieren, weil die Registrierung viel zu kompliziert und die sog. ‚Usability‘ aktuell ebenfalls miserabel ist, ganz abgesehen von dem bisher fehlenden Mehrwert für den Anwender“

 

Christian: „Die Skepsis ist nicht unbegründet. Mich begleitet das Thema mein gesamtes Berufsleben, und sagen wir mal, wenn man zwischendurch ein paar Jahre nicht mit dem Thema beschäftigt war und dann wieder einstieg, hatte man oftmals nicht das Gefühl, man hätte etwas Wesentliches verpasst in der Entwicklung. Ich glaube aber, es tut sich inzwischen etwas. Es wird nicht morgen oder übermorgen passieren, aber ich bin schon vorsichtig optimistisch.“

 

UH: Vielen herzlichen Dank Euch beiden!

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