
Gesundheit oder Freiheit: Müssen wir uns entscheiden?
Digitale Gesundheits-Apps, Wearables, Implantate und Sensoren, die zur Verwaltung und Vorbeugung von Krankheiten eingesetzt werden, konvergieren mit KI-Technologien. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist der vernetzte Sensor des französischen Unternehmens Withings, der in die heimische Toilette integriert wird und umfassende Gesundheitsinformationen liefern kann. Bemerkenswert ist auch die Aufforderung der Europäischen Kommission an ihre Mitgliedstaaten, eine Langzeitüberwachung von SARS-CoV-2 und seinen Varianten im Abwasser einzurichten. Diese Studien sollen dazu beitragen, mehr Daten über die Ausbreitung des Virus in bestimmten geografischen Regionen oder in großen Bevölkerungsgruppen zu sammeln. Besorgniserregend ist der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EGDR), der Behörden und Regulierungsstellen Zugang zu diesen Daten verschaffen würde, insbesondere im Falle von Pandemien. Im Kern geht es hier um Biopolitik, die Abgrenzung zwischen Demokratie und Tyrannei und die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit - genau wie in Juli Zehs Buch Corpus Delicti, das ich letztes Mal beschrieb.
Demokratien müssen anders antworten
Der Fall Wiesner aus dem Jahre 2022, in dem der Betreiber der österreichischen Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) auch das Zentrale Impfregister verwaltete, zeigt auf beunruhigende Weise, dass solche Risiken nicht nur in China, sondern auch in demokratischen Ländern bestehen. Nach Einführung des Impfpflichtgesetzes sollten Daten von ungeimpften Patient:innen automatisch an die Polizei weitergeleitet werden, um ein Strafverfahren einzuleiten. Der Geschäftsführer der ELGA wehrte sich dagegen und wurde daraufhin entlassen.
Dieser Vorfall wirft wichtige Fragen auf, die wir nicht ignorieren können. Wie können wir sicherstellen, dass die Privatsphäre und persönliche Daten im Zeitalter der Digitalisierung geschützt werden? Welche Grenzen sollten bei der Weitergabe sensibler Gesundheitsdaten an staatliche Stellen gezogen werden? Und vor allem: Wie können wir sicherstellen, dass solche Entscheidungen im Einklang mit unseren demokratischen Werten und der Rechtsstaatlichkeit getroffen werden?
Diese technologischen Fortschritte können für engagierte Patient:innen neue Chancen bieten, aber auch neue Risiken und Herausforderungen mit sich bringen. Was passiert, wenn das zugrundeliegende Modell der verbesserten Gesundheitsversorgung und der Eigenverantwortung der Patientin und des Patienten missbraucht wird? Inwieweit sind wir bereit, persönliche Freiheiten im Namen der Gesundheitsvorsorge aufzugeben? Wer hat das Eigentum und die Kontrolle über die Daten und die KI? Wer profitiert von den gewonnenen Erkenntnissen? Und vor allem: Wer entscheidet, wie diese Technologien eingesetzt werden und welche Werte dabei zum Tragen kommen? Unsere demokratischen Institutionen? Auf der Eröffnungsveranstaltung des 127. Deutschen Ärztetages warf Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, Gesundheitsminister Lauterbach vor, dass die Regierung den Verbänden faktisch keine Gelegenheit mehr gebe, zu Gesetzesänderungen Stellung zu nehmen, stattdessen „Demokratiegefährdung durch Hauruck-Gesetze“ betreibe. Eine solche „Pro-forma-Beteiligung“ von Parlament und „organisierter Zivilgesellschaft“ sei gefährlich für die Demokratie.
Bart de Witte | Gründer Hippo AI Foundation | LinkedIn | Copyright: Amelie Witte
Chancen nutzen und Risiken abwehren
Wie können wir sicherstellen, dass die Nutzung und der Zugang zu unseren Gesundheitsdaten gerecht und transparent erfolgen? Wird die geplante Umstellung von Opt-in auf Opt-out im Falle der elektronischen Patientenakte (ePA) zur Schaffung digitaler Gemeinschaftsgüter genutzt oder führt sie zu geschlossenen, urheberrechtlich geschützten Entwicklungen?
Die Zukunft, in der meine Kinder aufwachsen werden, wird zweifellos von den Entwicklungen in der KI und der Digitalisierung geprägt sein. Als Eltern tragen wir die Verantwortung, sicherzustellen, dass diese Entwicklungen nicht nur wirtschaftliche und technologische Vorteile bringen, sondern auch auf einem soliden Wertesystem aufbauen. Wenn in dem über 80-seitigen Vorschlag für den EGDR unser Recht auf Leben, unser Recht auf Unversehrtheit und vor allem unser Recht auf Gesundheit nicht erwähnt wird, werde ich sehr skeptisch.
Es liegt an uns, die Chancen und Risiken der digitalen Transformation zu verstehen und sicherzustellen, dass die Gesellschaft von den positiven Auswirkungen profitiert, während grundlegende ethische Prinzipien und der Schutz der Privatsphäre gewahrt bleiben.
Weiterführende Literatur:
- FOCUS online (2023) Ärztepräsident wirft Regierung Demokratiegefährdung durch Hauruck-Gesetze vor. Abgerufen von: LINK
- Weiser, U. (2022) Elga-Chef gegen „Rasterfahndung mit Gesundheitsdaten”. DiePresse.com. Abgerufen von: LINK
- Zeh, J. (2010) Corpus Delicti: ein Prozess. btb.